Zuweilen war ich begriffsstutzig, weil die Zahlen und Tabellen mich überforderten. Aber die beiden Professoren brachten mir die facts of climate and history bei, so der Stadtwanderer.

Facts of Climate and History

Benedikt Loderer hat «Klima und Gesellschaft in Europa» gelesen – ein nüchterner Blick auf die Geschichte, die des Klimas und die der Gesellschaft. Eine gründliche Auslegeordnung.

«Zum ersten Mal präsentieren ein Klimatologe und ein Historiker gemeinsam eine Geschichte des Klimas und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft in den letzten 1000 Jahren.» Das ist das Programm und es wird schön didaktisch Schritt um Schritt verwirklicht. Es beginnt mit zwei Fallstudien, eine zum Eismann Ötzi und die andere zur Tamborakrise, sprich der Hungersnot von 1816. Ich merkte: Das Buch will allgemeinverständlich sein. Tausend Jahre Klima heisst auch tausend Jahre Beobachtung. Wie hat sie sich verändert? Ein wichtiger Schritt war das Aufkommen von Messinstrumenten. Es folgen die Klimarekonstruktionen, oder wie man aus historischen Quellen, Eiskernen und Jahresringen Geschichte schreibt. Daraus und aus Modellsimulationen und ergibt sich der Verlauf des Klimas über die 1000 Jahre inklusive der jahreszeitlichen Schwankungen. Beide, der Klimatologe und der Historiker, schauen durch ihre eigene Forscherbrille auf denselben Gegenstand, doch sehen sie nicht zwei verschiedene Dinge, sondern die Überblendung: die Abhängigkeit der Menschheit vom Klima.


Im Anfang war die Energie und die Energie war die Sonne. Da gilt es auseinander zu halten: Es gibt es eine Welt vor und nach der Kohle. Vor der Kohle trieb die Photosynthese und die Sonnenenergie die organische, vorindustrielle Landwirtschaft an. Ergebnis: Biomasse in Form von Nahrungs- und Futtermitteln oder Mühle, Ochs und Menschenkraft. Das Ergebnis der Ernten steuerte den Lauf der Wirtschaft. Zeiten der Fülle liessen die Bevölkerung wachsen. Drei Wellen des Wachstums stellen die Autoren fest. Von 1170 bis 1300 war es warm und die Menschen lernten ihre Böden besser zu nutzen. In diesen 130 Jahren verdreifachte sich die Bevölkerung Europas. Es ist die Zeit der Kathedralen und der Städtegründungen, sprich Hochmittelalter. Die Pest ab 1348 halbierte bis 1400 die Bevölkerung, was aber mit dem Klima nichts zu tun hat. Nicht das Klima allein bestimmt die Geschichte. Doch ich lernte: Trotzt hoch und tief war die Zeit vor der Kohle die des Mangels.


Eine zweite Welle brachte das 16. Jahrhundert. Trockene warme Sommer bis 1565 steigerten die Ernten. Doch um 1570 beendete eine Hungersnot die guten Jahrzehnte und die Temperaturen sanken, die kleine Eiszeit begann. Kriege wie der Dreissigjährige dezimierten zusätzlich die Bevölkerung. Auch ohne Klimakrise kann der Mensch den Menschen ausrotten. Die dritte Welle begann um 1720. Zwar war das Klima eher kalt, doch hatte der Mensch unterdessen dazugelernt: Die Kartoffeln und den Mais aus Amerika eingeführt, die Dreifelderwirtschaft aufgegeben, den Klee entdeckt, die Stallfütterung erfunden, die Sämaschine konstruiert, kurz die Landwirtschaft wurde erst betriebswirtschaftlich, dann mechanisch modernisiert und schliesslich industrialisiert. Das ab dem 19. Jahrhundert, «dem klimatisch vielleicht ungünstigsten der letzten 1000 Jahre».


Denn unterdessen begann die Welt nach der Kohle, sprich das Zeitalter der fossilen Energie. Die Abhängigkeit von der Photosynthese war überwunden. Die Dampfmaschine, der Elektro- und der Explosionsmotor ersetzten Mühle, Ochs und Menschenkraft. Das neue Zeitalter der Fülle begann mit der Spinnmaschine, fuhr dann mit der Eisenbahn und fliegt heute mit dem Airbus klimaschädigend durch die Atmosphäre. Energie ist im Überfluss vorhanden. In der Welt nach der Kohle leben wir. In einem Treibhaus. Ab 1950 steigen die Temperaturen, es braucht keine langen Worte das zu schildern, eins genügt: Klimakrise. Die Autoren nennen auch ihre Ursache: Das billige Öl. Oder im Wissenschaftsdeutsch: «Der Kollaps der Energiepreise seit den 1950er Jahren und der damit aufkommende verschwenderische Lebensstil sind die Hauptursache für den sprunghaften Anstieg der Nutzung fossiler Brennstoffe und den damit verknüpften beschleunigten Treibhauseffekt.» Andersherum, es sind die Massenmotorisierung, der Tourismus, die Zersiedelung und alle anderen angenehmen Dinge, wie Kunststoff zum Beispiel, die uns ins Gefängnis des Treibhauses führten. Darin sitzen wir und kommen nicht heraus, weil das Verzicht bedeutet, genauer eine gerechtere Verteilung. Wir aber teilen nichts. Doch die Temperatur steigt, wir werden im Treibhaus geröstet. Das zeigen die beiden Professoren beweiskräftig und nüchtern.


Conclusion? Wer das Gleichgewicht nicht halten kann, fällt. Es gilt ein altes Wort neu zu lernen: Verletzlichkeit. Der verdrängte Mangel grinst wieder hervor. Wir stellen etwas beleidigt fest, das jene Welt aus den Fugen ist, die wir uns doch so clever gezimmert haben. Unser einst unerschütterliches Vertrauen in die Stabilität des Versorgungssystems wankt. Wir haben das Vertrauen in die Zukunft verloren. Geben wir’s doch zu: Wir sind ratlos.


Ich las ein Lehrbuch. Die beiden Professoren brachten mir die facts of climate and history bei. Zuweilen war ich begriffsstutzig, weil die Zahlen und Tabellen mich überforderten. Ich hatte das Gefühl, die beiden Hochschullehrer wollten ein in jeder Hinsicht wissenschaftlich wasserdichtes Werk schreiben. Das überwältigende Literaturverzeichnis unterstreicht das. Ich las und sass im Hörsaal. Die beiden stellen nüchtern die Tatsachen fest. Sie kennen die Fakten und breiten sie über 375 Seiten aus. Ich lernte viel. Nur ein Beispiel: Die Hexenverbrennungen hatten viel mit dem Klima zu tun. Die kleine Eiszeit führte zur Hungersnot, wogegen man Sündengeissen brauchte.


Was ich nicht las, war, wie kommen wir aus dem Treibhaus wieder heraus? Da schweigen die Professoren unüberhörbar. Politik ist nicht ihr Geschäft. Ihres ist das Vorzeigen. Ich las zwar, was das Fliegen beiträgt zum allgemeinen Fussabdruck, doch nirgends die Folgerung: Du sollst nicht fliegen. Die Wissenschaftler ziehen eine klare Grenze: Sie erklären, wie es ist und wie es kam. Was nun zu tun sei, das ist Politik, nicht Wissenschaft. Mir fehlte ein letztes Kapitel: «Die Umkehr oder der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Klimafalle».

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