Was ist das eigentlich, Bestand? Und wie sollten wir damit umgehen? Eine Wohnexpertin, eine Architektin und eine Denkmalpflegerin sprechen über Häuser, Menschen und den gemeinsamen Weg in die Zukunft.
Folgendes Szenario: Eine alte Bewohnerschaft belegt zu viel Wohnraum in einem in die Jahre gekommenen Gebäude. Kennen Sie Beispiele oder haben Sie eigene Projekte, die zeigen, wie solche Häuser zukunftsfähig gemacht werden können?
Marie Glaser: Das BWO fördert das Projekt MetamorpHouse. Mit Erfahrungsberichten, Tipps und Tools aktiviert es das Potenzial von Einfamilienhäusern, um ein Wohnungsangebot zu entwickeln, das den Bedürfnissen der Bevölkerung entspricht. Bei der Transformation von Einfamilienhausgebieten wird es mittlerweile von vielen kantonalen und kommunalen Partnern oder Stiftungen, vor allem in der Suisse romande, als Modell empfohlen. MetamorpHouse setzt beim Objekt an und entwirft gemeinsam mit der Eigentümerschaft Zukunftsaussichten für das Haus. Die Website zeigt auf, wie sanftes Verdichten geht – und wie dieses den Hausbesitzerinnen ermöglichen kann, bis ins hohe Alter zu Hause zu wohnen. Die Strategien führen zu baulichen Lösungen, wirken aber auch sozial.
Barbara Buser: Der ‹Wohnwendeökonom› Daniel Fuhrhop zeigt schlüssig auf, dass man der Wohnungsnot begegnen kann, ohne neu zu bauen, indem man «unsichtbare Räume» mit sozialen Programmen aktiviert. Dabei geht es vor allem um eine Beratung meist älterer Eigentümerinnen, die nach dem Auszug ihrer Kinder im zu gross gewordenen Haus wohnen.
Konstanze Domhardt: Mich interessieren dabei vor allem zwei Aspekte: Wie viel Stabilität weist ein solches Einfamilienhausgebiet auf und wie viel Varianz verträgt es? In der Denkmalpflege beschäftigt uns neben der Erhaltung und der Gestaltung in einer inventarisierten Wohnsiedlung immer auch das Gleichbehandlungsgebot. Was macht eine Transformation mit der ganzen Siedlung? Es gilt, diese fast systemisch zu denken und sich zu überlegen, wie sich das Lebensumfeld der Menschen verändert, wenn zum Beispiel alle einen Anbau in ihren Garten stellen.
Marie Glaser: Interessant sind auch Ansätze von kommunalen Behörden, die bei Planungsverfahren mit verschiedenen Eigentümerschaften eines Quartiers zusammenarbeiten, damit nicht jede Parzelle einzeln weiterentwickelt wird. Das bedeutet vielleicht, zwei Objekte abzureissen, um sie anschliessend mit etwas zu ersetzen, was im Quartier noch fehlt, etwa ein Quartierzentrum oder Raum für das Wohnen im Alter. Das Denken in Quartieren statt in Parzellen ist ein zukunftsfähiger Ansatz.
Marie Glaser:
Die Sozial- und Kulturwissenschaftlerin leitet seit 2022 den Bereich ‹Grundlagen Wohnen und Immobilien› des Bundesamts für Wohnungswesen (BWO) und ist Mitglied der Geschäftsleitung. Vorher leitete sie das ETH Wohnforum – ETH CASE am Departement Architektur der ETH Zürich und lehrte als Gastprofessorin an der TU Wien.
Barbara Buser:
Nach ihrem Studium an der ETH Zürich arbeitete die Architektin zehn Jahre in Afrika. Zurück in Basel, gründete sie unter anderem die erste Bauteilbörse, das Baubüro In Situ, den Thinktank für Projekt- und Stadtentwicklung Denkstatt, das Fachplanungsbüro für das Bauen im Kreislauf Zirkular und den Verein Unterdessen, der sich für die Zwischennutzung von Liegenschaften engagiert.
Konstanze Domhardt:
Die Architektin und promovierte Städtebauhistorikerin leitet seit 2018 die Fachstelle Denkmalpflege der Stadt Winterthur. Nach Forschungsaufenthalten in den USA war sie Dozentin an der ETH Zürich, heute lehrt sie an der Universität Zürich sowie an der ZHAW. Sie versteht Denkmalpflege als interdisziplinäres Projekt.
Geht es dann nicht vielmehr um den Freiraum anstatt um die Objekte?
Konstanze Domhardt: Es sind die Gebäude, die im Zusammenspiel mit den Freiräumen einen Ort mitbestimmen. Sichtachsen oder Wegbezüge können ebenfalls ortsdefinierend und -spezifisch sein. Um Stadtraum nach einer Transformation lesbar zu machen, muss man Dinge und Bezüge finden, die Identität stiften und einen Mehrwert generieren, auch wenn sie bisher vielleicht kaum wahrgenommen wurden. Möglicherweise haben zum Beispiel Schulkinder Trampelpfade gebildet.
Marie Glaser: Wenn wir die Suffizienz ernst nehmen, besteht die Chance von Transformationen in der Agglomeration darin, dass bestehende Strukturen so weiterentwickelt werden, dass die Wege kurz sind und ein ressourcenschonendes Wohnen möglich wird. Als zuständige Instanz für Raumplanung und Bauvorschriften kann die Gemeinde Einfluss auf die Entwicklung einer gebauten Umwelt nehmen, die eine suffiziente Lebensweise fördert. Zum Beispiel, indem sie eine angemessene Baudichte vorschreibt und Zonen für Einfamilienhäuser begrenzt. Sie kann eine Stadt der kurzen Wege fördern, indem sie auf öffentlichen Verkehr und autoarme Siedlungen setzt. Die Gestaltung einer Umgebung kann vielseitig nutzbar sein und dem Langsamverkehr zugutekommen. Kommunale Behörden können privaten Grundeigentümerinnen einen Dichtebonus gewähren als Gegenleistung für eine energie- oder flächensparende Ausgestaltung.
Barbara Buser: Wir gehen immer vom Bestand aus, das ist uns wichtig. Dabei umfasst Bestand nicht nur Gebäude, sondern auch das soziale Geflecht und wirtschaftliche Aspekte: Wo befinden sich Läden? Gibt es weiteres Gewerbe? Wo ist etwas los? Welche Probleme bestehen? Sobald wir das Land gesichert haben – Regel Nummer 1 bei einer Transformation –, gehen wir auf die Menschen zu. Wir laden Nachbarn, Anwohnerinnen, Schulkinder und die Behörden ein, um ihnen zuzuhören. Was erzählen sie uns über ihren Lebensraum? Durch das Zuhören merkt man, was an einem Ort nötig und möglich ist. Meist sind das wertvolle Anregungen, die wir dann auch in die Planung aufnehmen. Wenn das Gesagte in der Schublade verschwindet, sind partizipative Veranstaltungen nicht zielführend.
Konstanze Domhardt: Das heisst, ihr macht eine Analyse von allem, was ihr vorfindet, nicht nur vom Gebauten und den Zwischenräumen. Ihr betreibt wirklich Oral History. Das ist interessant – und entspricht auch unserem Vorgehen: erst einmal im Wohnzimmer sitzen und zuhören. Denkmalpflege befasst sich tatsächlich weniger mit Gebäuden als vielmehr mit Menschen und ihren Geschichten – sie ist im eigentlichen Sinne ein Pflegeberuf.
Barbara Buser: Wir zeichnen dann eine Schatzkarte, auf der wir alles festhalten, was wir gefunden haben. Später kann man auch noch einmal darüber diskutieren, ob etwas für die einen ein Schatz und für die anderen ein Schandfleck ist. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es nach einer Tabula rasa 20 bis 30 Jahre braucht, bis ein Gebiet wieder zu leben beginnt. Das Schlimmste ist, wenn der Lebensstrom abbricht. Damit das nicht passiert, ist es wichtig, sanft und Schritt für Schritt zu sanieren, umzubauen und umzunutzen.
Architektin und Denkmalpflegerin sind sich also einig: Sie wollen nicht abreissen. Aus unterschiedlichen Gründen?
Konstanze Domhardt: Grundsätzlich geht es uns beiden um eine Wertbeständigkeit über eine lange Zeit. Ein Abbruch unterbricht diese Wert- und Wissensvermittlung. Es muss nicht alles erhalten werden, aber die Frage ist: Brechen wir das Richtige ab?
Marie Glaser: Die heutige und die zukünftige Aufgabe liegt im Umbauen und Ergänzen. Der Ersatzneubau allein kann es nicht mehr sein!
Barbara Buser: Im Sinne der Stadt der kurzen Wege ist es auch ganz wichtig, dass es im Transformationsgebiet eine gemischte Nutzung gibt.
Marie Glaser: Genau, die Mischung von Wohnen und Arbeiten ist in vielen Fällen möglich und schafft Flexibilität für ein Quartier. Wenn wir die 15-Minuten-Stadt anstreben, müssen wir das auch in unseren Vorgaben und in den Planungsgrundlagen abbilden.
Oft sind diese Vorgaben überholt. Wie lässt sich trotzdem eine lebendige Stadt planen?
Konstanze Domhardt: Die Nutzungsplanung ist ein extremer Hebel. Eine zu funktionale Sicht, die bis zu den CIAM-Kongressen zurückreicht, verhindert Kreativität. Man könnte Stadt anders denken als so – auch wenn das jetzt etwas weit von meinem Fachgebiet entfernt ist. Wie es möglich ist, in den Prozessen Ermessens- und Gestaltungsspielräume offen zu halten, beschäftigt mich sehr. Alle Beteiligten müssen ihre Rolle wahrnehmen: Eine Architektin muss dem Eigentümer sagen können, dass es sich vielleicht nicht um das richtige Haus für seine Bedürfnisse handelt. Das darf nicht immer nur Aufgabe der Denkmalpflegerin oder des Bauinspektors sein.
Barbara Buser: Ich glaube, dass die heutige Stadtentwicklung ganz viel mit den ökonomischen Grundlagen zu tun hat, obwohl man diese nicht nennt. Das Problem ist das viele Geld, das Anlagemöglichkeiten sucht.
Marie Glaser: Zuallererst braucht es die Bereitschaft, zwischen Zielkonflikten oder den unterschiedlichen Interessen eine Balance auszuhandeln.
Konstanze Domhardt: Unsere Erfahrung ist, dass das möglich ist. Es gilt, von Anfang an alle an einen Tisch zu holen. Wir haben gute Prozesse, aber man muss sie ernst nehmen und sich offen austauschen. Das fällt uns in Winterthur leichter, weil alle Fachstellen in einem Haus sind. Ich gehe ein Stockwerk nach oben zur Energiefachstelle und zur Feuerpolizei oder nach unten zum Tiefbauamt. Natürlich geht das nicht überall so einfach, aber prinzipiell ist es möglich.

Zwölf Stellschrauben
Was wurde bei den acht Beispielprojekten in diesem Heft besonders gut gelöst? Was können künftige bestandserweiternde Projekte von ihnen lernen? Hier die zwölf im Heft eingestreuten ‹Stellschrauben›:
1. Bedürfnisse hinterfragen
Wer bauliche Standards und Komfortnormen hinterfragt, baut ökologischer. Auch ein günstiges Haus kann architektonisch wertvoll und schön sein.
2. Langfristig denken
Nicht immer gleich alles machen, sondern Lebenszyklen durch hohe Nutzungsflexibilität und Systemtrennung verlängern.
3. Unsichtbares weiternutzen
Bestehende unterirdische Bauten oder deren Gruben lassen sich weiternutzen. Das spart Energie, Zeit und Geld.
4. Bewusst ersetzen
Ersatzneubauten sind nicht grundsätzlich böse. Gezielt eingesetzt, können sie Siedlungen verdichten und Freiräume verbessern.
5. Vielfältig mischen
Ein guter Wohnungs- und Nutzungsmix erhöht die Vielfalt und senkt die Vermarktungsrisiken eines Gebäudes. Zudem macht er das Quartier lebendiger.
6. In Etappen (um)bauen
Wenn der Ersatz oder die Sanierung etappenweise erfolgt, können die Bewohner in ihren Wohnungen bleiben oder dahin zurückkehren. Das kann einen sozialen Mehrwert generieren.
7. Grenzen setzen
Reglementierungen können Wohnungen preisgünstiger und damit sozialer machen. Und sie können dabei helfen, Häuser zu erhalten, etwa wenn ein Neubau weniger Ausnützung ermöglicht.
8. Mehr teilen
Eine aufgewertete Wohnung kommt wenigen zugute, ein aufgewerteter (halb) öffentlicher Freiraum vielen. Weniger privater Wohnraum kann mit mehr gemeinschaftlichen Räumen kompensiert werden.
9. Barrierefrei (um)bauen
Zugänglichkeit ist nötig und wichtig. Gezielte Hürden halten aber auch fit.
10. Gezielt ergänzen
Neue Bauteile können ein Haus öffnen: zum Licht, zur Gemeinschaft oder zur Aussicht.
11. Spuren wertschätzen
Bestehendes stiftet Identität und spendet Charakter. Es schafft keine Zwänge, sondern Möglichkeiten zur intelligenten Aneignung.
12. Baudenkmäler pflegen
Instandhaltung und Pflege verlängern das Leben von Gebäuden, eine Transformation schenkt ihnen ein neues Leben.
Themenheft ‹Bestand erweitern›
Um der zunehmenden Wohnungsknappheit zu begegnen, müssen wir bestehende Bauten erneuern und erweitern. Wichtige Themen wie Kreislaufwirtschaft oder bezahlbare Mieten, Denkmalpflege oder Biodiversität stehen dabei oft in Konkurrenz zueinander. Das Hochparterre Themenheft ‹Bestand erweitern› möchte dazu beitragen, dass sich diese komplexe Bauaufgabe nicht selbst blockiert, sondern viele Ziele vereint. Es kann hier bestellt oder bequem als E-Paper gelesen werden.
Infos zum Heft hat Redaktor Axel Simon.