Reto Knutti im Gespräch mit Sarah Barth und Palle Petersen von ‹Countdown 2030›.

«Das ist kein Argument gegen das Bauen mit Holz, sondern eine Frage der Buchhaltung.»

Wie funktioniert Netto-Null? Was heisst das für den Holzbau als Kohlenstoffspeicher? ETH-Klimaphysiker Reto Knutti antwortet im Podcast von ‹Countdown 2030›.

Reto Knutti ist seit 2007 Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich. In seinem Büro an der Universitätsstrasse türmen sich dicke Bücher, darunter die von ihm mitverfassten Klimaberichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Doch Knutti ist nicht nur Forscher, Lehrer und Erklärer. Er ist auch ein engagierter Bürger und äussert sich prominent in der Öffentlichkeit. 2021 setzte er sich für das revidierte CO2-Gesetz ein, 2023 für den indirekten Gegenentwurf zur Gletscherinitiative, das heutige Klima- und Innovationsgesetz (KIG). Beides brachte ihm Lob und Aufmerksamkeit von der einen Seite, heftige Kritik bis Diffamierung von der anderen.

Palle Petersen (PP): Herzlich willkommen, Reto. Wie sieht deine Welt 2030 aus?
Reto Knutti: Hoffentlich haben wir bis dahin entscheidende Fortschritte gemacht, um den Klimawandel zu stoppen. Dabei denke ich nicht nur an technische Entwicklungen, von denen ich derzeit viele beobachte. Mich besorgen die Müdigkeit in der Gesellschaft, die Spaltung in der Politik, die zunehmend dünne Medienlandschaft. Hier liegt die Challenge für 2030: Die Klimawende ist im Kern auch eine soziale Herausforderung. Wir müssen als Menschen wieder zusammenkommen, das beschäftigt mich über die Klimaphysik hinaus.

Sarah Barth (SB): Beginnen wir trotzdem bei Physik und mit einer einfachen Frage: Was ist eigentlich CO2?
CO2 ist ein Gas. Es ist nicht giftig und stinkt nicht. Wir atmen es aus, und es ist ein Rohstoff. Pflanzen brauchen es für die Photosynthese. Sie atmen sozusagen CO2 ein, Sauerstoff O2 aus und binden den Kohlenstoff C als Biomasse. CO2 ist also eine Lebensgrundlage und war schon immer da. Das Problem ist nun, dass wir mehr von diesem Gas ausstossen als es im natürlichen Kreislauf geschähe, vor allem durch die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle, durch Landnutzungsänderungen und die Zementproduktion. Das Problem ist der Treibhauseffekt.

SB: Wie funktioniert der Treibhauseffekt denn genau?
Der Begriff ‹Treibhaus› ist eigentlich irreführend, denn es gibt kein Glasdach. Vielleicht hilft hier das Bild einer warmen Decke: Ist diese im Bett zu dick, wird die körpereigene Wärme nicht genügend abgeführt und man heizt auf. Ganz ähnlich behindern Treibhausgase wie CO2 oder Methan, dass der Planet seine Strahlungswärme abgeben kann. Das ist im Grunde sinnvoll und natürlich. Aber die steigende Konzentration in der Atmosphäre wirkt nun so, als würde man immer noch eine kleine Schicht über die Decke legen.

PP: Wie immer macht die Dosis das Gift. Der Kohlenstoffkreislauf des Planeten besteht aus einem ozeanischen und terrestrischen Anteil, dazu kommt der menschgemachte Anteil. In welchem Verhältnis stehen diese Dinge zueinander?
Der gesamte CO2-Fluss von Ozean und Biosphäre beträgt jährlich über 700 Milliarden Tonnen und ist grundsätzlich im Gleichgewicht. Im Vergleich dazu sind die von den Menschen verursachten rund 40 Milliarden Tonnen klein, aber diese Störung bringt das Fass zum Überlaufen. Der über viele Millionen Jahre als Öl, Gas und Kohle eingelagerte Kohlenstoff gelangt innerhalb weniger Jahrhunderte in die Atmosphäre und kann durch die natürlichen Senken zwar etwa zur Hälfte, aber eben nicht vollständig abgebaut werden. So steigt der CO2-Gehalt in der Atmosphäre Jahr für Jahr. In der vorindustriellen Zeit waren es etwa 280 parts per million, heute stehen wir bei rund 420.

SB: Wie lässt sich das Pariser Klimaziel in diesem Kontext verstehen? Ist das eine sinnvolles und wissenschaftliches Ziel oder ein politisch motiviertes?
Natürlich ist das Ziel – eine Erwärmung von deutlich weniger als 2° C, idealerweise von 1,5° C – zwar von der Wissenschaft informiert, aber am Ende ein gesellschaftliches. Die Naturwissenschaft kann die Frage, wie hohe Risiken wir als Gesellschaft eingehen wollen, nicht beantworten. Nach 30 Jahren Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen haben wir uns 2015 in Paris darauf geeinigt, dass eine Erwärmung von 1,5° C ungemütlich genug wird. Wenn man das nun erreichen will, bedeutet das ein Restbudget von etwa 250 Milliarden Tonnen CO2. Beim aktuellen Tempo werden wir das Budget in etwa sechs Jahren aufgebraucht haben, also am Ende dieser Dekade.

PP: Gemäss Stand heute steuern wir auf etwa 3° C Erwärmung zu. Was heisst das für den Planeten und die Menschheit?
Das Problem ist, dass die Zunahme der Temperatur keine linearen Folgen hat. Der Unterschied von 1,5° C gegenüber 2° C ist bereits sehr gross, der gegenüber 3° C ist riesig. Die Kartoffel zum Beispiel kann mit 1° C Erwärmung umgehen, mit 2° C vielleicht auch noch – nicht aber mit 3° C oder mehr: Dann ist die Kartoffel einfach weg. Und genauso ist es bei den Tierarten und bei der Zunahme extremer Stürme und Hochwasser. Dazu kommen Kipppunkte wie das Auftauen der Permafrostböden in Sibirien, Alaska und Kanada. Bei steigender Temperatur setzen diese Böden in grossen Mengen Methan und CO2 frei, was die Erwärmung weiter steigert. Bei der Überschreitung gewisser Schwellenwerte sind einige Auswirkungen unumkehrbar. Darum sind 3° C Erwärmung kaum tolerierbar. Die Schäden, die uns dann drohen, übersteigen die Kosten des nötigen Klimaschutzes um ein Vielfaches.

PP: Unser Verein ‹Countdown 2030› wird sich in der Silvesternacht 2029/30 auflösen. Die Inspiration dazu gab eine Aussage des deutschen Klimaforschers Joachim Schellnhuber, der sinngemäss sagte, die laufende Dekade sei die entscheidende. Stimmt das, oder müssen wir unsere Statuten ändern?
Natürlich hat er recht. Jetzt stellen wir die Weichen und entscheiden, ob die gesteckten Ziele überhaupt noch erreichbar sind. Und ehrlich gesagt, sind wir zu spät für 1.5° C. Das Restbudget reicht noch wenige Jahre und der menschliche CO2-Ausstoss steigt weiterhin, wenn auch langsamer. Netto-Null weltweit über alle Sektoren bis 2030 ist schlicht nicht mehr denkbar. Trotzdem finde ich das Framing gefährlich. Wenn wir das Ziel nun verpassen, machen wir dann etwa überhaupt nichts mehr? Letztlich müssen wir einfach so schnell wie möglich Netto-Null erreichen, damit die Temperatur nicht weiter steigt. Und jede Tonne ist eine Tonne. Wir müssen die Menschen von einem alternativen Leben überzeugen. Das Narrativ «Wenn ihr jetzt nicht radikal handelt, wird es ganz schlimm» ist nicht falsch. Trotzdem ist es kommunikativ nicht hilfreich. Die Richtung stimmt, und je mehr und je schneller sie mitmachen, desto besser.

PP: Sprichst du darum lieber vom Klimawandel als von der Klimakrise?
Als Naturwissenschaftler versuche ich, Werturteile tendenziell zu vermeiden. Es gibt ausserdem einige Studien, die zeigen, dass Alarmismus nicht hilft. Das Konzept Weltuntergang motiviert die allerwenigsten Menschen zum Handeln. Im Gegenteil, es macht Angst und fördert Widerstand. Die Dringlichkeit zu benennen, ist wichtig und richtig. Aber es ist produktiver, attraktive und spannende Lösungen zu bringen, auf die die Leute Lust haben. Manchmal befällt mich die Frustration. Aber ich versuche, immer auch das Positive zu sehen: Wir haben eine der grössten Wirtschaftsleistungen pro Kopf, unglaublich gut ausgebildete Menschen, stabile Infrastrukturen und Institutionen. Wir können das schaffen.

PP: Bei ‹Countdown 2030› sehen wir die Bauwende vor allem als Chance, die Architektur neu zu erfinden. Und das ist sie wirklich. Das Gleiche gilt für die gesamte Gesellschaft: Betonen wir nicht viel zu häufig die Kosten statt den Nutzen des Wandels?
So sehe ich das. Unsere Forschungen zeigen regelmässig, dass der ungebremste Klimawandel wesentlich teurer wird als das Nichtstun. Im Wandel steckt ausserdem eine ungeheure ökonomische Chance. China zum Beispiel hat das längst verstanden und investiert massiv in den Bereichen Photovoltaik, Batterien, Elektrofahrzeuge et cetera. Auch die USA haben mit dem ‹Inflation Reduction Act› vorwärts gemacht. Die Schweiz als Innovationsland hätte die beste Ausgangslage, um in die Vorreiterrolle zu gehen. Aber leider warten wir eher ab, statt uns aktiv zu positionieren. Nehmen wir das Klima- und Innovationsgesetz (KIG): Unlängst hat man die 200 Millionen Franken für Ladeinfrastrukturen gestrichen. Jetzt stellt man das Gebäudeprogramm infrage, obwohl es erwiesenermassen im Bausektor unglaublich viel bewirkt hat. Man kann es nicht anders sagen, aber die Umsetzung des Klima- und Innovationsgesetzes ist in der Schweiz momentan mangelhaft.

SB: Kommen wir zur grossen Verheissung der Klimaneutralität, zu Netto-Null. Der Begriff impliziert eine Gleichung mit einer Null als Resultat. Beginnen wir auch hier ganz grundsätzlich: Wie funktioniert eine CO2-Bilanz und was ist der Rahmen?
Das ist eine enorm vielschichtige, aber wichtige Frage. Was gehört dazu und was nicht? Wir nennen das Systemgrenzen. Die Schweiz rapportiert ihre Emissionen zum Beispiel an die UNO. Die Schifffahrt und die Luftfahrt sind dabei nicht eingeschlossen, nach der Logik, dass diese Emissionen nicht in der Schweiz anfallen. Das Gleiche gilt für Konsumgüter aus dem Ausland. Die Hose aus Bangladesch, das Telefon aus China, das Auto aus Deutschland. Alle diese Emissionen sind nicht in der Bilanz der Schweiz, obwohl wir es ja sind, die diese Dinge brauchen. Insgesamt ist der CO2-Impact des importierten Konsums höher als der CO2-Ausstoss innerhalb der Schweiz. Tendenz steigend, weil wir industrielle Aktivitäten zunehmend ins Ausland verlagern. Da stellt sich sofort die Frage: Wie rechnen wir? Und wer ist ethisch-moralisch wofür verantwortlich?

PP: Das Schweizer Netto-Null-Ziel bis 2050 klammert also Schifffahrt, Luftfahrt und den gesamten importierten Konsum aus?
Korrekt. Ausserdem ist mit dem Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens auch die sogenannte Kompensation im Ausland erlaubt. Zum Beispiel gibt die Schweiz einem Bauern in Indien etwas Geld, damit dieser einen Baum pflanzt oder nicht abholzt, und lässt sich diesen Effekt dann als Emissionsreduktion anrechnen. Bei der Revision des CO2-Gesetzes hat sich das Parlament gewehrt, den Auslandanteil zu begrenzen. Der Bundesrat wird nun wahrscheinlich maximal ein Drittel erlauben. Immerhin. Aber streng genommen heisst das natürlich, dass die Schweiz ihre Klimaziele nicht im eigenen Land lösen muss. Ausserdem sind die Zertifikate oft weniger wirksam und dauerhaft als nötig und setzen falsche Anreize. Letztlich müssen alle Länder ihre Emissionen auf null reduzieren, und diese Verrechnereien lenken von der nötigen Anstrengung ab, die Infrastrukturen und Industrien umzubauen. Netto-Null heisst letztlich, dass alle verbleibenden Emissionen durch CO2-Entfernung aktiv aus der Atmosphäre entnommen und dauerhaft gespeichert werden müssen. Wir werden darum in relativ kurzer Zeit überhaupt nicht mehr von Kompensationen und Offsets sprechen, sondern nur noch von CO2-Entfernung.

SB: Zur CO2-Entfernung gibt es einerseits technische Möglichkeiten, wie Filteranlagen bei der Abfallverbrennung oder Zementproduktion, die das CO2 an der Quelle abfangen. Danach kann man es in die Hohlräume alter Gas- und Ölfelder pumpen. Korrekt?
Punkto Speicherung ist das korrekt. Allerdings gibt es auch sonst genügend Platz und Möglichkeiten in den Gesteinsschichten der Erde. Ich möchte betonen, dass das funktioniert und auch nicht gefährlich ist. Manchmal wird diese Einlagerung mit dem Endlagerproblem des Atommülls verglichen, aber CO2 ist nicht giftig. Wenn zum Beispiel fünf Prozent wieder austreten, ist das kein Problem. Es muss bloss rechnerisch erfasst werden. Punkto Technologien eine kleine Korrektur: Streng genommen sind die aufgezählten Verfahren, Carbon Capture & Storage (CCS), eine Vermeidung an der Quelle. CO2-Entfernung dagegen heisst, bereits emittiertes CO2 aktiv aus der Atmosphäre zu entfernen. Einerseits durch technische Möglichkeiten. Direct-Capture-Anlagen wie die von Climeworks in Island wirken wie gigantische Luftfilter. Ausserdem lässt sich zum Beispiel Kohlenstoff an das Granulat von Recyclingbeton dampfen. Dazu kommen natürliche Verfahren wie die Verwässerung von stillgelegten Mooren oder die Aufforstung von Wäldern.

PP: Das klingt super. Können wir also einfach weitermachen wie bisher und den Carbon Removal Market ganz gross aufblasen?
Das klingt natürlich verlockend. Allerdings sind die menschengemachten 40 bis 50 Milliarden Tonnen pro Jahr eine gigantische Menge. Selbst wenn wir die Emissionen um 90 Prozent reduzieren und nur noch 10 Prozent via Entfernung ausgleichen müssten, bräuchten wir etwa eine Million Anlagen wie jene in Island. Wie sich das so skalieren lässt, ist die eine Frage. Die Kosten sind eine andere. Aktuell kostet eine entfernte Tonne 800 Franken. Das ist viel Geld und wird heute nicht von denen gezahlt, die das CO2 ausstossen. Und das Wichtigste: Es ist in den allermeisten Fällen schlicht am einfachsten und günstigsten, das CO2 nicht auszustossen. Bei vielen industriellen und landwirtschaftlichen Prozessen geht das. Beim Fliegen und bei der Zementproduktion wird es schwer vermeidbare Restemissionen geben.

PP: Heisst das, man sollte CO2-Entfernung überhaupt nur für schwer vermeidbare Emissionen anwenden?
Theoretisch würde ich das nicht so sagen, denn eine Tonne ist eine Tonne. Für Netto-Null muss jede emittierte Tonne entfernt werden, egal welche. Es ist allerdings ziemlich dumm und teuer, einen Ferrari mit V12-Verbrennungsmotor zu fahren und das ausgestossene CO2 dann aus der Luft zu filtern und im Boden zu verpressen. Man kann das machen, aber der Umstieg auf ein Elektrofahrzeug ist schlichtweg viel günstiger. Praktisch besehen ist die Vermeidung bei 90 Prozent der Emissionen tatsächlich sinnvoller. Die CO2-Entfernung kommt dort ins Spiel, wo die Vermeidung extrem schwierig oder teuer ist – also dort, wo die CO2-Entfernung ökonomisch die beste Lösung ist.

PP: Das wüssten wir gerne konkreter. Welche technischen oder biologischen Möglichkeiten der CO2-Entfernung sind die grossen Hoffnungsträger, auch finanziell?
Es gibt natürlich zahllose Ideen im Laborstadium. Kohlenstoff lässt sich zum Beispiel in Form von Pflanzenkohle als Pulver auf Böden aufbringen. Die Frage der Skalierbarkeit ist da aber noch offen. Ansonsten gibt es zwei Dinge, die im Moment wirklich verfügbar und anwendbar sind: erstens die erwähnte technologische Entfernung direkt aus der Luft. Zweitens die Aufforstung von Wald – das ist relativ günstig und einfach, allerdings gibt es einige Nachteile: Bis ein Wald wirklich ausgewachsen ist, dauert es 50 bis 100 Jahre. Es gibt vor allem in unseren Breitengeraden nur beschränkt neuen Platz für neue Wälder. Eigentlich wird fast jede Fläche in irgendeiner Form genutzt, und sobald Wald zum Beispiel mit der Nahrungsmittelproduktion in Konkurrenz tritt, haben wir ein Problem. Dazu kommt die Frage der Dauerhaftigkeit. Ein neuer Wald bindet Kohlenstoff, danach ist er einfach in einem ständigen Gleichgewicht. Geht er verloren, ist die ganze Senkenleistung emittiert. Die Lebensdauer eines Waldes lässt sich in unserer Gesellschaft höchstens ein paar Jahrzehnte garantieren. Und ein letzter Gedanke: Global ist die Waldfläche rückläufig. Vielleicht müssen wir in diesem Kontext froh sein, wenn wir die vorhandenen Waldflächen und ihren Artenreichtum überhaupt erhalten können.

SB: Der Aspekt der Dauerhaftigkeit oder Permanenz ist spannend. Das CO2 bleibt schliesslich über Jahrhunderte in der Atmosphäre. Demgegenüber definiert die revidierte CO2-Verordnung der Schweiz 30 Jahre als dauerhaft genug für die Anrechenbarkeit einer Senkenleistung. Das genügt wissenschaftlich gesehen nicht?
Es ist ziemlich erschreckend. Was politisch diskutiert wird, macht absolut keinen Sinn. CO2 ist chemisch stabil und zerfällt nicht. Wenn ich über negative Emissionen und CO2-Entfernung spreche, müssten diese ebenso dauerhaft sein – mehrere Jahrhunderte oder ein Jahrtausend. Wenn man von einer so kurzen Zeit wie 30 Jahren ausgeht, müsste zumindest gesichert sein, dass 30 Jahre später die gleiche Senkenleistung erneut erbracht wird. Auf den Wald bezogen: Entweder es ist gesichert, dass ein neuer Wald über Jahrhunderte erhalten bleibt. Oder es muss ein neuer gepflanzt werden, wenn er nach 30 Jahren verschwindet.

PP: Kommen wir zum letzten Themenblock: biogene Baustoffe und CO2-Bilanzierung. In der Schweiz werden 50 Prozent des Holzes als Brennholz verbrannt, etwa 15 Prozent zur Produktion von Papier und Zellstoff verwendet und nur etwa 30 Prozent stofflich verwertet, zum Beispiel als Konstruktionsholz. Müsste man nicht grundsätzlich im Sinne einer Kaskadennutzung das Holz erst verbauen, dann wiederverwenden, später zu Werkstoffen verarbeiten und erst ganz am Ende verbrennen, und zwar mit CO2-Abscheidung?
Korrekt. Zumindest in Bezug auf Holz, das als Konstruktionsholz verwendet werden kann. Im Übrigen ist das Heizen mit Holz auch wegen der Luftreinhaltung problematisch. Holzpellets aus Restholz in grossen Anlagen mit entsprechenden Filtern und Standards zu verfeuern, ist in Ordnung. Auf ein paar kleine Häuser in den Bergen, die Holzscheite verbrennen, kommt es nicht an. Aber grundsätzlich sind Wärmepumpen fast immer die bessere Wahl.

PP: Holz, Stroh, oder Hanf sind seit einigen Jahren enorm populär, weil sie erstens nachwachsen, zweitens emissionsarm sind und drittens Kohlenstoff speichern. Gerade als Kohlenstoffsenke nähren sie die Hoffnung, dass das Bauen vom Problem zur Lösung wird. Wie siehst du das?
Als Atmosphärenphysiker kann ich hier nur das Big Picture liefern. Der Bausektor ist global nicht nur für knapp 40 Prozent der Emissionen verantwortlich, sondern auch für die Hälfte des Ressourcenverbrauchs und fast zwei Drittel des Abfalls. Es geht also nicht nur ums Klima, sondern auch um die Kreislaufwirtschaft, konkret um den Kreislauf der Baustoffe. Es ist klar, dass wir nicht weiterhin mit so viel Beton, Stahl, Glas und Kunststoffen bauen und diese am Ende deponieren können. Somit stellt sich die Frage, ob wir weniger bauen und mehr Bestand erhalten können oder eben mit anderen Materialien bauen. Was das Holz angeht, muss man sagen: Wenn der Wald, aus dem das Konstruktionsholz stammt, nachhaltig gewachsen ist, unterhalten und genutzt wird – und das ist ein grosses Wenn –, dann kann ich tatsächlich CO2 vermeiden und C binden. Aber es bleibt die Frage der Permanenz: Wenn ein Haus eben nicht 1000 Jahre lang steht, was passiert an dessen Lebensende mit dem Holz?

PP: Ein Haus steht in der Regel eher 60 bis 100 Jahre als 1000 Jahre. Sollten wir Konstruktionsholz also als C-Senke erfassen oder nicht? Und falls ja, bei wem fällt die Senke an – beim Waldbetreiber, beim Holzverarbeiter oder beim Hausbesitzer?
Meines Wissens gibt es da noch keine Logik, und das ist ein Problem. Punkto Anrechenbarkeit als Negativemission kann man definitiv eine Tonne CO2 als Holz im Haus nicht gleich erfassen wie eine Tonne CO2 für 1000 Jahre kilometerweit unter dem Boden versorgt. Das ist kein Argument gegen Holz als Baustoff, aber eine Frage der Buchhaltung. Wie rechne ich das, und wem rechne ich das an? Das ist am Ende eine Frage, die die Politik beantworten muss. Wissenschaftlich sind wir beim gleichen Punkt wie vorhin: 30 oder 60 Jahre sind für eine sinnvolle CO2-Entfernung als Speicherdauer absolut zu kurz.

SB: Besteht nicht auch die Gefahr von Fehlanreizen? Wenn man zum Beispiel ein Betonhaus abreisst, um ein Holzhaus neu zu bauen, ist dem Klima auch nicht geholfen.
Korrekt. Im Allgemeinen glaube ich, dass wir uns mit immer mehr Buchhaltungskriterien selbst im Weg stehen. Wenn man das alles messen und zuordnen muss, kreiert man gefährliche Anreize. Auf einmal kann man etwas Schlechtes tun und am anderen Ort mit etwas Gutem kompensieren, und dann ist man klimaneutral? Ich habe da eine klare Haltung: Wir sollten positive und negative Impacts prinzipiell nicht miteinander verrechnen.

PP: Das hiesse in Bezug auf das Bauen, die temporären Senken und die verbauten Emissionen separat zu bilanzieren. Oder als Versuch einer Zusammenfassung: Man muss erstens sicherstellen, dass Holz aus einem nachhaltig bewirtschafteten Wald stammt, zweitens, dass der Kohlenstoff im verbauten Holz auch über 30, 60 oder 100 Jahre hinweg nicht in die Atmosphäre gelangt. Und drittens sollte man auch dann den Kohlenstoff als C-Senke separat bilanzieren. Korrekt?
Einverstanden. Ich verstehe natürlich, dass man eine CO2-Bilanz für ein Gebäude machen will. Aber wir müssen auch akzeptieren, dass man dabei Äpfel mit Birnen verrechnet. Dann gibt es noch Nebenwirkungen dieser Äpfel und Birnen, die wir unter den Tisch kehren. Zum Beispiel: Ist das ein biodiversitätsfördernder Mischwald oder nicht? Man sollte die Dinge darum möglichst auseinanderhalten – den Bau nicht mit dem Betrieb verrechnen, die Emissionen nicht mit den Senken.

PP: Letzte Frage zum Wald: Seit dem Jahr 2000 haben wir global fast die Fläche von Deutschland an Wald verloren: acht Hektare respektive zwölf Fussballfelder pro Minute. Kann es in dieser Dynamik überhaupt einen Wald geben, der als Senke zählt?
Da sind wir – wie bei den Kompensationszertifikaten – wieder bei der Gretchenfrage, was ansonsten passiert wäre. Ich kann da keine abschliessende Antwort geben. Aber der gesunde Menschenverstand sagt: Wir sollten aufhören, Wald für andere Nutzungen abzuholzen, weil wir neben C-Senken auch Biodiversität und Ökosysteme verlieren.

SB: Kommen wir zur Abschlussfrage. Manchmal scheinen die Herausforderungen allzu gross, und alles geht zu wenig oder zu spät voran. Zynismus ist mir persönlich fern. Was gibt dir die Hoffnung, dass wir es schaffen?
Die junge Generation, die unglaublich innovativ und willensstark ist. Ein Land, das wahnsinnig viele Möglichkeiten hat. Die Tatsache, dass wir ziemlich genau wissen, was politisch und technologisch zu tun ist. Wir müssen es nur noch machen, und das hat vor uns noch niemand. Wir sollten uns darum eine gewisse Leichtigkeit bewahren. Wir werden Fehler machen, und wir werden lernen. Wir werden auf Hürden stossen, die wir nicht gesehen haben. Aber wir werden auch überraschende Dinge finden, die uns helfen. Es ist völlig normal, dass wir manchmal Angst vor dem Neuen haben. Aber es gibt auch die Möglichkeit, als Gesellschaft mutig Ja zur Veränderung zu sagen. Persönlich bin ich absolut überzeugt, dass eine nachhaltigere Welt möglich ist.

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